13

 

Claire erwartete, dass er aufwachte und ihr irgendeine Erklärung gab oder sie tröstete. Er musste doch wissen, wie erschüttert sie jetzt war. Aber er schlief einfach weiter, lag reglos auf dem Boden neben dem Bett, sein Atem ging ruhig. Er ließ mit ihrer tiefen Not allein, als hätte er ihr das alles absichtlich zeigt, um sie zu beunruhigen - sie zu entsetzen. Vielleicht hatte er sogar gewollt, dass sie auch von ihm entsetzt war.

Claire wartete, bis ihr Puls sich wieder beruhigt und ihr Körper aufgehört hatte, zu zittern, dann kroch sie unter die Decke und zählte die Stunden bis zur Abenddämmerung.

„Tote Hose in diesem Scheißladen“, murmelte Chase, ließ seinen Blick über die Menschenmenge in dem überfüllten Club schweifen und fand offenbar nichts nach seinem Geschmack. „Wir hätten in den Norden der Stadt gehen sollen, wie ich gesagt habe, statt unsere Zeit hier in Dorchester zu verschwenden.“

Kade zuckte die Schultern und warf Brock, dem dritten Mitglied ihrer Patrouille, ein schiefes Grinsen zu. „Wenn du wirklich tote Hose sehen willst, geh mit mir nach Alaska. Es ist ein Witz, Mann. Da gibt es pro Quadratkilometer mehr Elche als Mädels.“

„Ach was?“, grunzte Chase. „Kein Wunder, dass du letztes Jahr so wild drauf warst, da abzuhauen und nach Boston zu kommen. Wie viele Monate friert man sich da die Eier ab, bis all diese Elche einem vorkommen wie erstklassiges Fickmaterial?“

Brock kicherte leise. Kade bleckte die Zähne und zeigte beiden den Stinkefinger.

„Also, war toll, aber ich bin raus hier“, verkündete Chase. Er fuhr sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn, seine blauen Augen blickten etwas unstet und ziellos unter dem Bund seiner engen schwarzen Strickmütze hervor. „Was ich jetzt nötig habe, gibt es in diesem Laden nicht. Fröhliche Elchjagd.“

Kade nickte dem ehemaligen Agenten zu. „Wir treffen uns später im Hauptquartier.“

„Irgendwann später“, antwortete Chase. Er war schon auf dem Weg zum Ausgang.

Als er fort war, stieß Brock einen leisen Seufzer aus und schüttelte den dunklen Kopf. „Der Typ hat ein ernstes Problem.

„Du meinst, außer sich die ganze Zeit aufzuführen wie ein arroganter Agentenarsch?“, fragte Kade gedehnt und sah den riesenhaften Krieger an, den der Orden etwa zur gleichen Zeit rekrutiert hatte, zu der er aus Alaska gekommen war.

Es war nicht so, dass Kade Sterling Chase nicht mochte - oder Harvard, wie er als Absolvent der Eliteuniversität manchmal genannt wurde. Chase war ein kompetenter Krieger, sogar einer aller besten. Er war ein hervorragender Schütze, und man konnte verdammt froh sein, ihn im Kampf als Rückendeckung zu haben. Aber was das Zwischenmenschliche anging, war der Mann kalt wie ein Gletscher.

„Ich weiß nicht, was mit ihm los ist“, sagte Brock.

„Ich sage nur, dass er lieber aufpassen sollte. Er kommt mir vor wie einer, der mit einem Bein im Grab steht und das andere knapp daneben. Ihm geht einfach alles am Arsch vorbei, und das ist gefährlich.

Nicht nur für ihn, auch für jeden, der sich auf ihn verlassen muss.“

Kade ließ sich das durch den Kopf gehen, während er seinen Blick über Bar und Tanzfläche schweifen ließ.

Zwei junge Frauen waren von einem Tisch in der Nähe aufgestanden und kamen in ihre Richtung.

Brock schenkte ihnen sein berühmtes Grinsen, mit dem er überall die heißesten Bräute flachlegte. Der Junge hatte es drauf, keine Frage. Aber Kade war auch nicht von schlechten Eltern. Er beäugte die beiden Hübschen, die mit der Zielsicherheit von lasergesteuerten Raketen durch die Menge auf die beiden Vampire zuschlenderten.

„Du kannst die Blonde haben“, murmelte er und nahm die Brünette mit den endlos langen Beinen unter ihrem kurzen roten Ledermini ins Visier.

Brock und er brauchten etwa drei Sekunden, um die Damen zu überreden, mit ihnen nach draußen zu gehen. Als sie draußen auf dem Parkplatz waren, dauerte es nur drei weitere Sekunden, und Kades Nase prickelte, seine Vampirsinne meldeten sich mit Urgewalt.

Er roch Blut.

Frisches Blut, und zwar eine Menge. Der Geruch kam irgendwo von der Rückseite des Clubs.

Ein Seitenblick auf Brock sagte ihm, dass der kupferige Geruch von frischen menschlichen roten Zellen auch dem anderen Vampir nicht entgangen war. Die beiden sprinteten zusammen los und ließen die Frauen stehen, die ihnen ärgerlich hinterherriefen, und rannten wie der Teufel zum rückwärtigen Teil des Gebäudes.

Nichts.

Die einzige funktionierende Sicherheitsleuchte auf dem Dach des Gebäudes schien hinunter auf leeren Beton und spärliches, von Unkraut übersähtes Gras.

Aber der durchdringende Blutgeruch in der Luft war hier für Kade und jeden anderen seiner Art besonders stark zu spüren.

„Da“, sagte er und entdeckte den dunklen Fleck im Straßenstaub, etwa einen Meter von ihm entfernt.

Blutspritzer, nah beieinander, tränkten die trockene Erde in der Nähe eines durchhängenden alten Maschendrahtzaunes.

Der blutende Mensch war dort drüben übelst zugerichtet worden, und wie diese Blutspur auf dem Boden aussah, würde das Opfer, was auch immer mit ihm passiert war, nicht mehr weit kommen, bis er oder sie ganz ausgeblutet war.

„Da ist nicht nur Menschenblut“, sagte Brock mit seiner tiefen Bassstimme grimmig. „Der Angreifer war ein Stammesvampir. Er hat selbst etwas Blut verloren.“

Jetzt, da der Krieger es erwähnte, registrierte auch Kades Nase noch etwas anderes als schlichtes Homosapiens- Blut. „Kein Rogue“, vermutete er, denn er fing nichts von dem widerwärtigen Gestank auf, den die Süchtigen ihrer Rasse verbreiteten. „Wer könnte sonst so idiotisch sein, dermaßen rücksichtslos Nahrung zu sich zu nehmen und seinen Blutwirt davonstolpern zu lassen wie ein abgestochenes Schwein?“

Brock schüttelte den Kopf, aber Argwohn verdunkelte seinen unverwandten, obsidianfarbenen Blick. Obwohl er es nicht aussprach, las Kade den stummen Verdacht in den Augen des riesigen Mannes.

„Chase?“, schnaubte Kade. „Ach was. Nie im Leben.“

„Irgendwas stimmt nicht mit ihm, Mann.“

„Aber doch nicht so was“, sagte Kade. Der ehemalige Agent war zwar nicht gerade der nette Onkel von nebenan, aber einen Menschen ausbluten zu lassen und eines der wichtigsten Gesetze des Stammes zu brechen? Als er vorhin gesagt hatte, dass er etwas nötig hatte, konnte er doch nicht so etwas gemeint haben, verdammt noch mal...

Brock nickte ernst. „Lass uns genauer nachsehen, nur um sicherzugehen.“

Sie brachen wieder auf, folgten der Blutspur über ein unbebautes Grundstück und in eine schmale Gasse. Je weiter sie gingen, desto stärker wurde sie.

Aus einzelnen Spritzern wurden Blutlachen, einige von ihnen größer und verschmiert, wo das Opfer hingefallen sein und es dann irgendwie geschafft haben musste, aufzustehen und sich noch ein Stück weiterzuschleppen.

Die Spur führte zur Einfahrt eines Schrottplatzes am Rand eines Industriegebietes. Er war eingezäunt, aber jemand hatte das mit einem Vorhängeschloss und einer schweren Kette gesicherte Tor einen Spaltbreit aufgedrückt und sich hindurchgezwängt, was die nassen roten Flecken auf dem Riegel und der Kante des Tores eindeutig bewiesen.

„Komm“, sagte Kade und drückte das Ding so weit auf, dass Brock und er hindurchschlüpfen konnten.

Er hörte einen Wirbel von Bewegung, dann kamen plötzlich um einen Haufen Altmetall und Müll riesige schwarze Hunde geschossen. Zwei üble Rottweiler, groß wie Panzer und höllisch bösartig.

„Ach du Scheiße!“

Brocks Aufschrei wurde vom wilden Gebell und Knurren der angreifenden Hunde fast übertönt. Es gab kein Tier, das es mit einem Vampir aufnehmen konnte, aber der Anblick von hundertdreißig Kilo tobenden Hunden konnte auch ihnen durchaus in die Glieder fahren. Kade stellte sich den Hunden mit angespannten Beinmuskeln entgegen, und die beiden Rotties schlossen rasch zu ihm auf.

Er starrte sie nieder, Auge in Auge.

Sie wurden langsamer... dann blieben sie stehen und duckten sich zu seinen Füßen. Die Hunde winselten, ließen sich auf die Bäuche fallen und hielten die riesigen Köpfe gesenkt, ihre dunklen Augen sahen ihn unterwürfig an.

„Ab mit euch.“

Sie trotteten davon, so fügsam wie Welpen.

Brock starrte ihn mit offenem Mund an. „Was zur Hölle war das denn?“

„Hier lang“, sagte Kade, ignorierte die Frage und den erstaunten Blick und stapfte weiter auf den Schrottplatz. Sie hatten gerade weiß Gott Wichtigeres zu tun.

Es war nicht schwer, das blutüberströmte Opfer zu finden. Der junge Mann war an einem rostigen Metallcontainer zusammengebrochen, ein in Jeans steckendes Bein vor sich ausgestreckt, das andere am Knie abgewinkelt. Er sah schlaff und erschöpft aus, wie eine Marionette mit durchschnittenen Schnüren, und presste die Hand gegen den Hals, wo die Blutung am schlimmsten war, doch er konnte sie nicht stillen. In nur wenigen Minuten würde er tot sein.

„Verdammte Scheiße“, zischte Brock. Die Stimme des Kriegers war belegt und angespannt, aber ob vor Abscheu oder einfach nur, weil der Anblick und Geruch von so viel frischem Blut selbst den diszipliniertesten Vampir dürsten ließen, als wäre er am Verhungern, konnte man nicht sagen.

Kades eigene Fangzähne fuhren weiter aus seinem Zahnfleisch, als er den blutenden Menschen betrachtete. Er gab sich beim Näherkommen Mühe, die scharfen Spitzen verdeckt zu halten. „Was ist mit dir passiert?“, fragte er, obwohl diese Verletzungen nur von einem Angehörigen seiner Art stammen konnten.

„Hat mich... angesprungen...“ Der Mann machte pfeifende Atemgeräusche. „Mein Hals ...Arschloch hat... mich gebissen.“

Als der Mann seine Hand wegnahm, um ihm die Wunde zuzeigen, traf der Kupfergeruch seines Blutes Kade wie eine Faust in den Magen. Er hatte erst gestern Nahrung zu sich genommen, aber der Drang, wieder zu trinken, zerrte an ihm. Sein Sehvermögen schärfte sich, seine Augen tauchten die Umgebung in bernsteinfarbenes Licht.

Brock sprang sofort ein, als Kade zur Seite blicken musste. „Wer hat dich gebissen?“, fragte er den Mann. „Kannst du den Typen beschreiben, der dir das angetan hat?“

Der Mann stieß einen langen, zitternden Seufzer aus. Ihm blieb jetzt nicht mehr viel Zeit. Er sah auf, seine Augen im dunkeln waren teilnahmslos und glasig. Dann hob er den Arm, streckte langsam einen Finger aus und zeigte auf etwas hinter Blocks massiger Schulter.

„Er“, keuchte er, seine Stimme klang bereits dünn und kraftlos. „Hinter euch... er war's...“

Kade und Brock drehten gleichzeitig die Köpfe - gerade noch rechtzeitig, um einen riesigen Stammesvampir zu sehen, der auf den hinteren Teil des Schottplatzes zurannte. Er trug schwarze Armeehosen und ein langärmliges schwarzes T-Shirt.

Sein Schädel war kahl rasiert, der nackte Hinterkopf bedeckt von einem unverkennbaren Dermaglyphenmuster.

„Das gibt's doch nicht“, murmelte Kade.

Er rannte los, Brock folgte ihm dicht auf den Fersen.

Sie rannten auf den hinteren Teil des schrottübersäten Geländes zu, aber der Gen-Eins- Vampir vor ihnen war zehnmal schneller als sie. Er machte einen Satz auf einen Berg von gepressten Autowracks, dann war er verschwunden.

Es war nicht Chase, der den Mann massakriert und zum Sterben liegen gelassen hatte, sondern ein anderer Stammesvampir, der seit kurzer Zeit allen Angehörigen des Ordens bekannt war. Der Gen Eins, der erst vor einigen Wochen zu ihnen gestoßen war.

„Hunter“, knurrte Brock. „Dieser Abschaum.“

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